Kapitel 1
Verse 14 bis 45

(Bild: British Library)
Übersicht
In dieser Lerneinheit werden wir uns mit den übrigen Versen von Kapitel 1 beschäftigen. Bei Markus beginnt Jesus sein Wirken mit der Verkündigung: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.“ Und er ruft das Volk auf, seine Sünden zu bereuen und an das Evangelium zu glauben.
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Im Anschluss daran stellt Markus uns sein drittes Hauptthema vor: Nachfolge. Ein Jünger ist berufen, Jesus nachzufolgen, um dann von ihm als ,Menschenfischer' ausgesandt zu werden. Indem er eine Verheißung des Propheten Jeremia aufnimmt (Jer 16, 14-16), betont Markus einen weiteren Aspekt des neuen Exodus: Mit Hilfe der Apostel wird dieser neue Exodus die verlorenen Stämme Israels aus allen Ländern zurückführen und das davidische Königreich neu errichten.
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Das Kapitel endet mit der Beschreibung eines typischen 24-Stunden-Tages im Leben Jesu. Markus zeigt uns, dass Jesus voller Tatkraft war und lehrend und heilend im Land umherzog. Alles geschieht unmittelbar. Aber er nimmt sich auch die Zeit, sich auszuruhen, zu beten und mit seinen Freunden und Lieben zusammenzusein. Jesus hatte – modern gesprochen – eine ausgeglichene Work-Life Balance und ist darin ein Vorbild für uns.
Lernziele
Sie werden diese Lerneinheit erfolgreich abgeschlossen haben, wenn Sie
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erklären können, warum diejenigen, die Jesu Rede über das Reich Gottes hörten, verstanden, dass er von der Wiedererrichtung des davidischen Königreichs sprach;
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erklären können, warum die Apostel bereit waren, alles zu verlassen, um Jesus zu folgen;
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erklären können, warum Jesus Kapernaum als seinen Hauptwohnsitz wählte; āā
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einen typischen Tag im Leben Jesu beschreiben könnenā;
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die symbolische Bedeutung von Lepra als Sünde erklären können.
Der Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu
Nachdem Johannes ausgeliefert worden war, ging Jesus nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium! (Mk 1, 14-15)
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Das erste, was Jesus predigte, war, dass das Reich Gottes nahe ist. Wenn wir heute an das Reich Gottes denken, neigen wir dazu, es zu vergeistigen. Wir stellen uns Gott im Himmel regierend vor oder die geistige Gegenwart Jesu in der Welt oder sogar die Kirche als sichtbares Reich Gottes auf Erden. Aber für diejenigen, die Jesus persönlich predigen hörten, konnte es nur eines bedeuten: die Wiederherstellung des Reiches Davids. Denken Sie an Israels Geschichte und wie Gott David versprochen hatte, dass sein Reich ewig Bestand haben werde; und doch wurde es bereits im 6. Jh. v. Chr. zerstört. Das Volk wartete sehnsüchtig auf die Wiederherstellung dieses Reiches durch Gott, wie es von den Propheten verheißen worden war. Es verstand, dass Jesus davon sprach. Das war für sie eine aufregende Botschaft. Wie wir allerdings in der vorigen Lerneinheit gesehen haben, erkannte der Prophet Maleachi, dass die Sünde des Volkes das Kommen dieses Reiches verhinderte. Jesus ruft daher alle zur Buße auf und zum Glauben an die gute Botschaft, damit Gott sein Reich errichten kann.
Die Berufung der ersten Apostel
Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er Simon und Andreas, den Bruder des Simon, die auf dem See ihre Netze auswarfen; sie waren nämlich Fischer. Da sagte er zu ihnen: Kommt her, mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. Und sogleich ließen sie ihre Netze liegen und folgten ihm nach. Als er ein Stück weiterging, sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und seinen Bruder Johannes; sie waren im Boot und richteten ihre Netze her. Sogleich rief er sie und sie ließen ihren Vater Zebedäus mit seinen Tagelöhnern im Boot zurück und folgten Jesus nach. (Mk 1, 16-20)
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Davids Königreich wurde aus den zwölf Stämmen Israels gebildet, und in 1 Könige 4, 7 lesen wir, dass Salomo zwölf Offiziere hatte, die ihm bei der Regierung Israels helfen sollten. Diesen Beispielen aus dem Alten Testament folgend, wird Jesus ebenfalls zwölf Apostel auswählen, die ihm helfen sollen, sein Reich zu errichten. Im vorliegenden Abschnitt sehen wir, wie er die ersten vier von ihnen beruft: Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes. Sie waren alle Fischer, die ihren Beruf am See Gennesaret ausübten.
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āDa sagte er zu ihnen: Kommt her, mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. (Mk 1, 17)
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āWir wissen, dass dies nicht die erste Begegnung zwischen Jesus und diesen Männern war, denn in Johannes 1, 29 lesen wir, wie Johannes der Täufer zwei seiner Jünger auf Jesus hinweist und spricht: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!“ Einer dieser Jünger war Andreas, und es ist möglich, dass der andere Johannes war. Später stellt Andreas Jesus auch seinem Bruder Petrus vor. Dies geschah, bevor Johannes der Täufer verhaftet wurde. In der Szene bei Markus beruft Jesus sie, nachdem Johannes verhaftet worden war, und fordert sie auf, ihm zu folgen. Wir wissen nicht, wie viel Zeit seit der Verhaftung Johannes des Täufers vergangen war.
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Vor dem Hintergrund der beiden Textstellen bei Markus und Johannes wird deutlich, dass die Berufung der Apostel in vielen Fällen tatsächlich ein längerer Prozess war, der sich vielleicht über mehrere Monate hinzog. Das Johannes-Evangelium beschreibt ihre ersten Begegnungen mit Jesus und wie sie ihn zu bestimmten Zeiten zwanglos begleiteten; vermutlich kamen und gingen sie. Ähnlich wie wir, wenn wir unsere Berufung erkennen, an Exerzitien teilnehmen, Zeit mit Priestern verbringen und anderes mehr, dies aber nicht die ganze Zeit tun. Markus und die Synoptiker richten den Fokus auf den endgültigen Zeitpunkt der Berufung der Apostel, als sie schließlich alles hinter sich lassen und Jesus nachfolgen. Wenn wir beide Evangelien vergleichen, erkennen wir, dass Jesus ihre Herzen auf diesen Moment der Selbstlosigkeit vorbereitete, als sie ihre Netze zurückließen, um ihm zu folgen.
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Was meint Jesus mit ,Menschenfischern'? Die Antwort findet sich im Alten Testament, im Buch Jeremia. Jeremia war einer der vielen Propheten, die über die Wiederherstellung des davidischen Königreichs durch einen neuen Exodus sprachen. In einer dieser Verheißungen schreibt er:
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Darum siehe, Tage kommen – Spruch des HERRN –, da sagt man nicht mehr: So wahr der HERR lebt, der die Söhne Israels aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat!, sondern: So wahr der HERR lebt, der die Söhne Israels aus dem Nordland und aus allen Ländern, in die er sie verstoßen hatte, heraufgeführt hat. Ich bringe sie zurück in ihr Heimatland, das ich ihren Vätern gegeben habe. (Jer 16, 14-15)
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Für Jeremia bestand der neue Exodus darin, dass Gott die verbannten Israeliten aus dem ,Nordland' zurück ins Gelobte Land führen wird. Damit bezieht er sich auf die zehn nördlichen Stämme Israels, die von den Assyrern erobert und in den Norden deportiert worden waren. Als Jeremia seine Verheißung schrieb, waren diese Stämme völlig vom Erdboden verschwunden. Wir wissen nicht, was mit ihnen passiert ist. Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, wie Gott die Israeliten sammeln und nach Hause bringen will. Jeremia führt aus:
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Siehe, ich sende viele Fischer – Spruch des HERRN –, die sollen sie fischen ... (Jer 16, 16)
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Die Juden waren sehr vertraut mit ihrer Geschichte und ihren Schriften. Als Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes Jesus so reden hörten, verstanden sie, was er damit sagen wollte. Es war der Beginn der Wiedervereinigung der Stämme Israels und der Wiederherstellung des davidischen Königreichs. Es war die Erfüllung des tiefsten Wunsches eines jeden Juden. Dies war eine faszinierende Botschaft, und die Apostel wollten ein Teil davon sein. Sie haben wohl auch Johannes' Zeugnis über Jesus noch im Kopf gehabt und sich an die Zeit erinnert, die sie mit ihm verbracht hatten. Er war ihnen also nicht völlig fremd. Deshalb legten sie ihre Netze zur Seite und folgten ihm.
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Ich hoffe, Sie verstehen, dass fast alles, was Jesus sagt oder tut, in irgendeiner Weise mit dem Alten Testament zusammenhängt. Er erfindet nichts Neues; er erfüllt nur die Schrift. Deshalb sollten Sie auch das Alte Testament lesen und sich damit vertraut machen. Sie können Jesus nicht verstehen, wenn Sie ihn vom Alten Testament trennen, und je mehr Einzelheiten Sie aus dem Alten Testament kennen, desto besser.
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Optionale Aufgabe: Schauen Sie sich das Video an „Exile and the Lost Tribes of Israel“, um etwas über die verlorenen Stämme zu erfahren.
Kafarnaum
Markus lässt uns wissen, dass Jesus und seine Jünger nach Kafarnaum gingen und dort ihren Hauptwohnsitz nahmen. Dies war eine bewusste und strategische Entscheidung. Kafarnaum lag im Gebiet von Naftali, einem der zwölf Stämme Israels. Wir wissen aus 2 Könige 15, dass Naftali einer der ersten Stämme war, der von den Assyrern erobert und ins Exil verbannt wurde. Jesaja prophezeit dazu:
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Wie er in früherer Zeit das Land Sebulon und das Land Naftali verachtet hat, so hat er später den Weg am Meer zu Ehren gebracht, das Land jenseits des Jordan, das Gebiet der Nationen.
Das Volk, das in der Finsternis ging, / sah ein helles Licht;
über denen, die im Land des Todesschattens wohnten, / strahlte ein Licht auf (Jes 8, 23-9, 2)
Jesus beginnt seine Mission der Wiedervereinigung der Stämme Israels und der Wiederherstellung des davidischen Königreiches genau dort, wo das Exil begonnen hatte. Dies sind die ersten Schritte, um die Auswirkungen des Exils rückgängig zu machen.
āEin typischer Tag im Leben Jesu
Wir glauben nicht nur, dass Jesus Gott ist, sondern auch ein Mensch – in allem uns gleich außer der Sünde. Markus stellt deshalb in den nächsten Versen die menschliche Seite Jesu heraus. Wenn Sie auf die Details in den Versen 21 bis 39 achten, werden Sie feststellen, dass sich alles innerhalb eines Zeitraums von 24 Stunden abspielt. Markus zeigt uns einen typischen Tag im Leben Jesu. Es war ein Samstag, und wie alle Juden ging Jesus am Morgen in die Synagoge.
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Sie kamen nach Kafarnaum. [Sogleich] Am folgenden Sabbat ging er in die Synagoge und lehrte. (Mk 1, 21)
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Beachten Sie, dass Markus den Satz wieder mit einem ,sogleich' beginnt. Dieses Wort wird in den nächsten Versen mehrmals auftauchen. Es vermittelt uns ein Gespür für die Tatkraft Jesu. Er tut erst dies, dann das und sogleich wieder etwas Anderes. Jesus war von seiner Persönlichkeit her kein passiver Typ, er handelte schnell entschlossen.
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So finden wir ihn in der Synagoge lehrend, und alle staunen über das, was er sagt, denn er lehrte mit Vollmacht. Das soll ausdrücken, dass er seine Lehre durch Zeichen bekräftigte, was darauf hinweist, dass er übernatürliche Kräfte hatte. In diesem Fall heilte er einen Mann, der von einem unreinen Geist besessen war. Dadurch offenbarte er seine Macht über die Dämonen. Während dieser Begegnung schreit der Dämon:
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Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazaret? Bist du gekommen, um uns ins Verderben zu stürzen? Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes. (Mk 1, 24)
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Der Ausdruck "der Heilige Gottes" mit dem bestimmten Artikel ist ein Hoheitstitel für den Hohepriester. In Psalm 106, 16 lesen wir:
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Sie wurden im Lager eifersüchtig auf Mose und auf Aaron, den Heiligen des HERRN.
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Im Altertum war man der Auffassung, dass man einen gegnerischen Geist beherrschen könne, indem man seinen Namen anruft. Vielleicht erkannte der Dämon Jesus als priesterlichen Messias und spürte seine geistliche Autorität. Andrerseits kann er das auch nur geschrien haben, um Jesus abzuwehren. Jedenfalls staunen die Menschen darüber, als Jesus diesen Menschen heilt. Markus fährt fort:
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Sie verließen sogleich die Synagoge und gingen zusammen mit Jakobus und Johannes in das Haus des Simon und Andreas. (Mk 1, 29)
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Jesus heilt nun die Schwiegermutter des Petrus, die mit Fieber im Bett liegt. Dies ist ein einzigartiges Wunder im Evangelium. Sie ist nicht von einem Dämon besessen, leidet nicht tragischerweise an Lepra, Blindheit oder einer anderen lähmenden Erkrankung – sie hat nur Fieber. Doch Jesus geht sehr aufmerksam und feinfühlig auch auf ihre Bedürfnisse ein. Er rührte ihre Hand an und hilft ihr auf. Dies zeigt uns, dass Jesus sich auch unserer kleinen Schwachheiten annimmt. Petrus' Schwiegermutter steht sodann auf und bereitet das Mittagessen zu, und Jesus verbringt den Rest des Sabbats entspannt im Kreise seiner Freunde und von Petrus' Familie.
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Die Nachricht von der Heilung in der Synagoge verbreitet sich rasch, so dass die Menschen bei Sonnenuntergang, als der Sabbat vorüber ist, all ihre Kranken und Besessenen zu Jesus bringenā. Wir erfahren, dass er viele heilte, obwohl Markus keine Einzelheiten nennt. Erneut sehen wir Jesus voller Tatkraft agieren. Wir erfahren nicht, wann, aber irgendwann muss er auch geschlafen haben, nur um am frühen Morgen wieder aufzustehen, um hinauszugehen und zu beten. Trotz seiner umfangreichen missionarischen Tätigkeit findet Jesus auch Zeit, um mit seinem Vater allein zu sein.
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Wir sehen an diesem 24-Stunden-Tag aus dem Leben Jesu, dass er als wahrer Mensch ein ausgewogenes Leben führte. Er war sehr aktiv, zog unermüdlich umher, lehrte und heilte; aber er fand auch Zeit um zu ruhen, zu beten und mit seinen Freunden und Lieben zusammen zu sein. Wir dürfen Jesus als Vorbild nehmen. Markus zeigt ihn hier von einer sehr menschlichen Seite.
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In Vers 38 lesen wir dann, dass Petrus und die anderen Begleiter nach ihm suchen, und als sie ihn finden, sagt er zu ihnen:
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Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort verkünde; denn dazu bin ich gekommen.
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Und das tun sie. Markus berichtet, dass Jesus durch Galiläa zog, in den Synagogen predigte und Dämonen austrieb.
Jesus heilt einen Aussätzigen
Ein Aussätziger kam zu Jesus und bat ihn um Hilfe; er fiel vor ihm auf die Knie und sagte: Wenn du willst, kannst du mich rein machen. Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will – werde rein! Sogleich verschwand der Aussatz und der Mann war rein. Jesus schickte ihn weg, wies ihn streng an und sagte zu ihm: Sieh, dass du niemandem etwas sagst, sondern geh, zeig dich dem Priester und bring für deine Reinigung dar, was Mose festgesetzt hat – ihnen zum Zeugnis. (Mk 1, 40-45)
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Es herrscht Uneinigkeit darüber, ob die Krankheit Lepra, von der in der Bibel die Rede ist, identisch ist mit dem, was heute als Lepra oder auch als Hansen-Krankheit bezeichnet wird. Die traditionelle Interpretation geht davon aus, dass mit dem Begriff dieselbe Krankheit gemeint ist. Dieser Interpretation schließe ich mich an. Lepra ist eine schreckliche Krankheit, bei der nach und nach der Körper eines Menschen zerfällt. Sie breitet sich langsam über den ganzen Körper aus, bis der Mensch schließlich daran stirbt.
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Leprakranke galten in der Antike als zutiefst unrein. Sie mussten ihre Kleider zerreißen, ihren Mund bedecken und laut rufen „Unrein, unrein!“, um andere in der Nähe zu warnen. Sie waren gezwungen, außerhalb der Dorfgemeinschaft zu leben, was Obdachlosigkeit nach sich zog; und sie fielen aus dem sozialen Netz ihrer Familien heraus. Im Judentum wird das Gebet zu Gott in Gemeinschaft vollzogen. Das hatte zur Folge, dass die Leprakranken auch von Gott getrennt waren, da sie nicht an den Gemeinschaftsgebeten teilnehmen durften. Wir finden die detaillierten Anweisungen zum Umgang mit Leprakranken im Buch Levitikus in den Kapiteln 13 und 14.
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Dies war die Situation des unglücklichen Mannes, der zu Jesus kam und ihn anflehte, ihn reinzumachen. Schon indem er sich Jesus näherte, verstieß er gegen das Gesetz. Aber irgendwie hatte er von den Wundertaten Jesu gehört und ging zu ihm. Auffallend ist, dass er Jesus nicht bat, ihn zu heilen, sondern ihn rein zu machen. Dies könnte darauf hindeuten, dass er ein tiefgläubiger Mensch war, für den die Wiederherstellung der Beziehung zu Gott und zur Gemeinschaft wichtiger war als sein körperliches Wohlbefinden.
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Markus hebt an dieser Stelle die Menschlichkeit Jesu hervor. Er hat Mitleid mit dem Mann und berührt ihn. Dies war eigentlich ein Verstoß gegen das Gesetz und hätte Jesus selber unrein gemacht, aber das Gegenteil geschieht: Jesus heilt und reinigt den Aussätzigen. Wir erfahren, dass die Krankheit den Mann sofort verlässt. Losgelöst vom Kontext, zeigt uns diese Erzählung, wie Jesus durch Galiläa zieht, in den Synagogen lehrt und die Kranken heilt. Aber wir dürfen nicht alles, was Jesus tut, aus dem Zusammenhang reißen. Jesus hat viele Menschen geheilt, aber das war nicht der Grund seines Kommens. Seine Mission war nicht, jeden Kranken in Israel zu heilen. Seine Wunder haben eine tiefere Bedeutung: Sie offenbaren seine Identität, die das Hauptthema des Evangeliums ist. Markus will uns zeigen, dass Jesus Gott ist und dass er gekommen ist, um uns zu retten. Das ist die gute Nachricht.
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Wir können diese tiefere Bedeutung von Jesu Wundertaten entdecken, indem wir sie wiederum im Licht des Alten Testaments betrachten. Dort hören wir von zwei Aussätzigen, die geheilt wurden; und in beiden Fällen war es Gott, der sie heilte. Numeri 12, 10 erzählt von Moses Schwester Miriam und 2 Könige 5, 6 erzählt von Naaman. Dieser war Kommandeur der Armee des Königs von Syrien und litt an Aussatz. Eine hebräische Sklavin macht ihm Mut, dass der Prophet Elischa ihn heilen könne. Deshalb wird er vorstellig bei seinem Dienstherrn, dem König, der ihn seinerseits zum König von Israel sendet mit einem Brief folgenden Inhalts:
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Ich habe meinen Knecht Naaman zu dir geschickt, damit du seinen Aussatz heilst. (2 Kön 5, 6)
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Als der König von Israel diesen Brief las:
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... zerriss er seine Kleider und rief: Bin ich denn ein Gott, der töten und zum Leben erwecken kann? Er schickt einen Mann zu mir, damit ich ihn von seinem Aussatz heile. (ā2 Kön 5, 7)
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Das bedeutet implizit, dass nur Gott Menschen von ihrer Krankheit heilen kann. Wenn also der Aussätzige zu Jesus geht und ihn bittet: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen“, drückt er damit unausgesprochen seinen Glauben an die Gottheit Jesu aus.
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Indem Jesus zu ihm sagt: „... zeig dich dem Priester, und bring für deine Reinigung dar, was Moses festgesetzt hat“, bezieht er sich auf die Vorschriften in Levitikus 13 und 14. Dort lesen wir, dass eine der Pflichten eines Priesters darin bestand, die Geschwüre auf dem Körper eines Menschen zu untersuchen, und festzustellen, ob er sich eine Krankheit, die zur Unreinheit führte, zugezogen hatte oder nicht.
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Wenn sich auf der Haut eines Menschen eine Schwellung, ein Ausschlag oder ein heller Fleck bildet und auf der Haut zu einem Anzeichen von Aussatz wird, soll man ihn zum Priester Aaron oder zu einem seiner Söhne, den Priestern, führen. Der Priester soll das Anzeichen auf der Haut untersuchen. Wenn das Haar an der kranken Stelle weiß wurde und die Stelle tiefer als die übrige Haut liegt, ist es Aussatz. Nachdem der Priester das Anzeichen untersucht hat, soll er den Erkrankten für unrein erklären. (Lev 13, 2-3)
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Wenn wir heutzutage ein Hautproblem haben, gehen wir zum Arzt. Damals gingen die Leute zu einem Priester. Ich habe an mehreren medizinischen Missionseinsätzen in Mexiko teilgenommen, und persönlich gesehen, wie häufig Hautkrankheiten dort vorkommen. Wahrscheinlich waren die Verhältnisse im alten Israel ganz ähnlich. Damals hatten Priester vermutlich häufig damit zu tun, Hautwunden zu untersuchen und festzustellen, ob Anzeichen von Lepra vorlagen oder nicht. Es lag in ihrer Verantwortung, jemanden für aussätzig zu erklären oder eben nicht. Und falls der Prieser jemanden für unrein erklärte, musste er sich von der Gemeinschaft absondern und alles erfüllen, was im Gesetz vorgeschrieben war.
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Wenn ein Aussätziger geheilt war, musste er sich erneut vom Priester untersuchen lassen. Deshalb wies Jesus den Mann an, er solle sich dem Priester zeigen und die Opfergaben darbringen, wie Mose es in Levitikus 14 vorschreibt. Danach wurde die Person vom Priester für rein erklärt und konnte zu ihrer Familie und in die Gemeinschaft zurückkehren.
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Sünde ist etwas Geistliches, das für uns schwer zu verstehen ist. Wir neigen dazu, sie nur als Übertretung von bestimmten Regeln zu betrachten. Doch die vielen genauen Vorschriften über die Behandlung von Lepra finden sich in der Bibel, weil Gott uns durch sie lehren will, dass Sünde wie ein Aussatz der Seele ist. So wie ein Aussätziger bei lebendigem Leibe verrottet, so ,verrottet' auch unsere Seele, wenn wir sündigen. Und wie es die Aufgabe der alttestamentlichen Priester war, die Geschwüre einer Person zu untersuchen, um festzustellen, ob sie Lepra hatte oder nicht – mit allem, was daraus folgte – so ist es auch die Aufgabe der neutestamentlichen Priester, diejenigen zu prüfen, die an geistlicher Lepra leiden. Dies geschieht im Sakrament der Beichte.
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Ein letzter Kommentar zu dieser Textstelle:
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Der Mann aber ging weg und verkündete bei jeder Gelegenheit, was geschehen war; er verbreitete die Geschichte, sodass sich Jesus in keiner Stadt mehr zeigen konnte; er hielt sich nur noch an einsamen Orten auf. Dennoch kamen die Leute von überallher zu ihm. (Mk 1, 45)
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Wenn früher der Aussätzige die Städte nicht mehr betreten durfte, so ist es jetzt Jesus, der gezwungen ist, außerhalb der Städte zu leben. Hier sehen wir, dass eine Verkehrung der Rollen stattgefunden hat: Jesus nimmt den Platz des Aussätzigen ein. Dies geschah auch in unserer Erlösung, als Jesus an unserer Stelle litt und starb.
Zusammenfassung
Ich hoffe, Sie verstehen jetzt, wie gehaltvoll das Markus Evangelium ist. Die Genialität des Markus liegt darin, dass er, obwohl er schlicht und direkt schreibt, gleichzeitig sehr tiefgründig ist. Wie wir bereits festgestellt haben, kann jeder, der das Evangelium liest, den Eindruck haben, dass er versteht, was er liest, ohne sich vom Text überfordert zu fühlen. Wir können die volle Bedeutung von Markus' Botschaft aber erst entdecken, wenn wir sie im Lichte des Alten Testaments lesen.
Aufgaben
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Lesen Sie Levitikus Kapitel 13 und 14, 2 Könige Kapitel 5 und 15 bis 17, und Jesaja 9, 1-7, um den Hintergrund von Markus 1, 14-45 zu verstehen!
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Vergleichen Sie eine der folgenden Textstellen mit den Parallelstellen bei Matthäus und Lukas! Was ist ähnlich? Was ist anders? Sie finden die Stellen nebeneinander stehend in den beigefügten PDF-Dateien.
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Die Berufung der ersten Jünger (Mk 1, 16-17; Mt 4, 18-22; Lk 5 ,1-11)
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Jesus heilt im Haus des Petrus (Mk 1, 29-34; Mt 8, 14–-7; Lk 4, 38-41)
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Jesus heilt den Leprakranken (Mk 1, 40-45; Mt 8, 2-4; Lk 5, 12-16)ā