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Lektion 1

Das Zeitalter der Schatten

Shadow of a person

Übersicht

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Wie ist der Zusammenhang zwischen Altem und Neuem Testament zu verstehen? Die Kirchenväter bieten eine Erklärung, indem sie die Geschichte unserer Erlösung in drei Phasen unterteilen: in die Zeit vor dem ersten Kommen Jesu, in die Zeit nach seiner Wiederkunft und in die dazwischenliegende Zeit. Diesen Zeitaltern können die Begriffe ,Schatten', ,Realität' und ,Abbild' zugeordnet werden. Das Zeitalter der Schatten umfasst die Geschichte Israels bis zum Kommen Christi. Diese Geschichte enthält biblische Schatten der zukünftigen Wirklichkeit.

Gott bediente sich der Schatten, um uns durch sie mitzuteilen, was er in Zukunft für uns tun würde. Allerdings war die Realität seiner zukünftigen Handlungen für diejenigen, in deren Zeit er sie ankündigte, noch nicht zugänglich. Wir leben heute im Zeitalter der Abbilder, auch Zeitalter der Kirche genannt. Der Unterschied besteht darin, dass wir bereits an der Wirklichkeit teilhaben, auf die sich die Abbilder (oder Sakramente) beziehen. Daran glauben wir, auch wenn wir es nicht sehen oder erklären können.

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Lernziele

 

Sie werden diese Lerneinheit erfolgreich abgeschlossen haben, wenn Sie

 

  • den Unterschied zwischen den Zeitaltern der Schatten, der Abbilder und der Realität verstanden haben und erklären können;

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  • die biblischen Ursprünge dieser Begriffe erklären können.

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Einführung

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In der letzten Lektion haben wir über die Einheit der Bibel gesprochen. Die Bibel ist einerseits das Wort von Menschen, weil sie über viele Jahrhunderte von verschiedenen menschlichen Autoren verfasst wurde. Sie besteht aus 73 verschiedenen Büchern. Aber da Gott ihr Hauptautor ist, erzählt die Bibel auch eine zusammenhängende Geschichte. Aufgrund dieser Einheit sollten wir die Bibel wie einen Roman lesen: vom Anfang bis zum Ende. 

 

Wer je versucht hat, die Bibel so zu lesen, weiß, dass dies kein einfaches Unterfangen ist. Viele Leser kämpfen sich mühsam durch die ersten Bücher der Bibel und geben dann irgendwo zwischen den Büchern Exodus und Numeri auf. Sie verheddern sich in den langen Genealogielisten, den Auflistungen, den verwirrenden Beschreibungen des Bundeszeltes, den verschiedenen düsteren Prophezeiungen und den archaischen Reinheitsgeboten. Sie sind schockiert über die dargestellte Gewalt und Sittenlosigkeit und wenden sich schließlich wieder dem Neuen Testament zu, weil es einfacher zu verstehen und für unser Leben scheinbar relevanter ist.

 

Dies ist kein neues Phänomen. Eine der ersten Häresien, mit denen die junge Kirche zu kämpfen hatte, war der Markionismus. Da Markion von Synope nur eine buchstabengetreue (wortwörtliche) Lesart der Bibel akzeptierte, war er der Auffassung, Altes und Neues Testament widersprächen einander. Deshalb behauptete er, dass der Gott des Neuen Testaments eine andere und höher anzusetzende Gottheit sei, als der Gott der Juden, weshalb er konsequenterweise das ganze Alte Testament verwarf. Die Kirche dagegen hat immer die Bedeutung des Alten Testaments hochgehalten.

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Das Alte Testament ist ein unaufgebbarer Teil der Heiligen Schrift. Seine Bücher sind von Gott inspiriert und behalten einen dauernden Wert, denn der Alte Bund ist nie widerrufen worden. (KKK 121)

 

Die Christen verehren das Alte Testament als wahres Wort Gottes. (KKK 123)

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Wie ist also der Zusammenhang zwischen Altem und Neuem Testament zu verstehen? Die Kirchenväter machten diese Beziehung deutlich, indem sie die Heilsgeschichte in drei Phasen unterteilten: in die Zeit vor dem ersten Kommen Jesu, in die Zeit nach seiner Wiederkunft und in die dazwischenliegende Zeit. Diese Phasen können mit den Begriffen ,Schatten', ,Realität' und ,Abbild' beschrieben werden.

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Das Zeitalter der Schatten

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Das Zeitalter der Schatten umfasst die Geschichte Israels bis zur Geburt Christi. Diese Geschichte ist geprägt von biblischen Schatten, die auf zukünftige Realitäten verweisen. Diese Terminologie findet sich schon in der Bibel.

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Sie dienen einem Abbild und Schatten der himmlischen Dinge ... (Hebr 8, 5)

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Denn das Gesetz, das nur einen Schatten der künftigen Güter, nicht aber die Gestalt der Dinge selbst enthält ... (Hebr 10, 1)

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Der Verfasser des Hebräerbriefes will damit ausdrücken, dass diese Dinge wie Schatten fungieren. Wie ist das zu verstehen? Natürliche Schatten werden durch einen Gegenstand geworfen, der das Licht nicht durchlässt. Die Umrisse des Schattens entsprechen dem Umriss des Objekts, so dass wir normalerweise eine Sache anhand ihres Schattens identifizieren können. Können Sie anhand der Bilder erkennen, welcher Gegenstand sich hinter dem Schatten verbirgt?

Shadow of a tree
Shadow of a hand holding a flower
Shadow of a cat seen through a screen

Ebenso entsprechen die biblischen Schatten zukünftigen geistigen Realitäten. Alle biblischen Schatten stammen von Gott, der ihnen als Urheber der Bibel eine tiefere Bedeutung gegeben hat. Als Gott die Priesterschaft in Israel durch Mose einsetzte, hatte er bereits das zukünftige Priestertum Christi vor Augen und formte das Priestertum des Alten Israels entsprechend. Aufgrund dieses Aufeinanderbezogenseins sagen wir, dass die Priester des Alten Testaments Schatten unseres ewigen Hohepriesters sind, auch wenn die Bibel das nicht so explizit ausdrückt.

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Das Gesetz nämlich macht Menschen zu Hohepriestern, die der Schwachheit unterworfen sind; das Wort des Eides aber, der später als das Gesetz kam, setzt den Sohn ein, der auf ewig vollendet ist. (Hebr 7, 28)

Stained glass window of a high priest
Icon of Jesus as the eternal high priest

Der Hohepriester des Alten Testaments ist ein "Schatten" von Jesus, dem ewigen Hohepriester.

(Foto: Lawrence OP auf Flickr)

Darüberhinaus können wir aufgrund des Aufeinanderbezogenseins zwischen einem Objekt und seinem Schatten Aussagen über das Objekt treffen, wenn wir seinen Schatten betrachten. Was sagt uns der Schatten des folgenden Bildes über die drei dargestellten Menschen?

Shadow of a family walking on a beach

Ich würde meinen, dass es sich um eine Familie handelt. Form und Größe des linken Schattens lassen vermuten, dass dort der Vater steht, hinter dem rechten Schatten dürfte sich die Mutter verbergen und in der Mitte der Sohn, der ungefähr zwei Jahre alt ist und die Hand der Mutter hält. Die Eltern scheinen gesunde junge Erwachsene zu sein.

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Dementsprechend können wir aus den biblischen Schatten des Alten Testaments etwas über die geistigen Realitäten ableiten. So fordert der Verfasser des Hebräerbriefes, dass Jesus Christus, unser ewiger Hohepriester, ein Opfer darbringen muss, weil es die Hohepriester des Alten Testaments auch taten.

 

Denn jeder Hohepriester wird eingesetzt, um Gaben und Opfer darzubringen; deshalb muss auch dieser etwas haben, was er darbringt. (Hebr 8, 3)

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Dieses Ableiten ist nicht immer einfach, da Schatten von Natur aus ungenau und mehrdeutig sind. Viele Informationen über einen Gegenstand können wir nicht anhand seines Schattens ermitteln. So können wir die Haut-, Haar- und Augenfarbe der oben dargestellten Menschen nicht feststellen. Wir können keine Aussage über ihre Kleidung oder ihren Beruf treffen. Vielleicht sind sie gar keine Familie. Es kann sich auch um Nachbarn handeln, Freunde oder einen Babysitter mit ihrem Freund. Schatten können sogar so verzerrt sein, dass es unmöglich ist, das sich dahinter verbergende Objekt zu identifizieren.

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Man könnte bei dem folgenden Bild denken, dass es sich um den Schatten von Michael Jackson handelt. Aber das dargestellte Objekt hat keinerlei Ähnlichkeit mit ihm.

Artistic shadow made to look like Michael Jackson moonwalking

Deshalb müssen wir bei der Interpretation alttestamentlicher Schatten vorsichtig sein. Wir sollten immer die Prinzipien im Kopf haben, die wir in Lektion 2 vorgestellt haben und die es beim Lesen der Bibel zu beachten gilt.

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Das Zeitalter der Wirklichkeit

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Die dritte Phase, das Zeitalter der Wirklichkeit, verweist auf die Zeit nach der Wiederkunft Christi, wenn die ganze Fülle der himmlischen Herrlichkeit offenbar sein wird. Wir brauchen dann keine Schatten mehr, weil wir Gott sehen werden, wie er ist. So sagen die Apostel Johannes und Paulus:

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Geliebte, jetzt sind wir Kinder Gottes. Doch ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen, dass wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. (1 Joh 3, 2)

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Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin. (1 Kor 13, 12)

Tapestry of the celestial Jerusalem

"La Jérusalem celeste", Ausschnitt aus dem Wandteppich der Apokalypse im Schloss von Angers, Frankreich.

Das Zeitalter der Abbilder

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Wir leben derzeit in der zweiten Phase der Heilsgeschichte, dem Zeitalter der Abbilder, das auch das Zeitalter der Kirche genannt wird. Dies ist die Zeit zwischen den biblischen Schatten der Vergangenheit und der zukünftigen Wirklichkeit. In diesem Zeitalter werden uns Abbilder der himmlischen Realitäten gezeigt und nicht nur ihre Schatten. Anhand eines Abbildes können wir sehr viel mehr über den dargestellten Gegenstand erfahren als nur anhand seines Schattens – denken Sie etwa an ein Portrait oder eine Fotografie. Auf dem nächsten Foto, das bis auf die Stiefel in schwarz-weiß gehalten ist, können wir deutlich erkennen, dass das Mädchen eine helle Hautfarbe hat und ungefähr 7 bis 8 Jahre alt ist. Sie hat langes blondes Haar und trägt Jeans und rosa Stiefel. Alle diese Informationen gehen in ihrem Schatten verloren.

Photo of girl and her shadow

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Im Zeitalter der Kirche fungieren die Sakramente wie himmlische Abbilder. Natürlich ist dies eine analoge Sprechweise. Deshalb müssen wir darauf achten, das Konzept der sakramentalen Zeichen nicht mit einem Gemälde oder einer anderen Form der visuellen Darstellung der himmlischen Wirklichkeiten zu verwechseln. Ein Sakrament ist viel mehr als nur ein Gemälde. Ein Gemälde kann die außerordentlich realistische Wiedergabe einer Person sein, aber es wird nie die Person selber sein. Dagegen sind die biblischen Abbilder oder Sakramente tatsächlich die Wirklichkeit, die sie darstellen. Der Unterschied besteht darin, dass wir diese Wirklichkeit nicht mit unseren Sinnen wahrnehmen, sondern nur im Glauben annehmen können.

 

Die Kirche lehrt: „In der irdischen Liturgie nehmen wir vorauskostend an jener himmlischen teil, die in der heiligen Stadt Jerusalem, zu der wir pilgernd unterwegs sind, gefeiert wird." (KKK 1090).

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Das Sakrament der Eucharistie ist ein gutes Beispiel für das, was wir meinen. Wenn wir die heilige Eucharistie empfangen, empfangen wir wahrhaftig den verherrlichten Leib Christi und sein Blut und werden geistig von ihm genährt. Dies ist die himmlische Wirklichkeit, die die Eucharistie verkörpert, obwohl sie immer noch aussieht, sich anfühlt und schmeckt wie Brot und Wein. Wir nehmen glaubend an, dass es sich so verhält, weil Jesus es uns gesagt hat.

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Während des Mahls nahm er das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es ihnen und sagte: Nehmt, das ist mein Leib. Dann nahm er den Kelch, sprach das Dankgebet, gab ihn den Jüngern und sie tranken alle daraus. Und er sagte zu ihnen: Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird.

(Mk 14, 22-24)

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Dies lässt sich ebenso über die anderen Sakramente sagen. Der Katechismus erklärt es folgendermaßen:

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Sakramente sind von Christus eingesetzte und der Kirche anvertraute wirksame Zeichen der Gnade, durch die uns das göttliche Leben gespendet wird. Die sichtbaren Riten, unter denen die Sakramente gefeiert werden, bezeichnen und bewirken die Gnaden, die jedem Sakrament zu eigen sind. In Gläubigen, die sie mit der erforderlichen innerlichen Haltung empfangen, bringen sie Frucht. (KKK 1131)

Photo of girl receiving her first Communion
Photo of a baby being baptized

Die Sakramente sind Abbilder himmlischer Realitäten. Durch sie nehmen wir an der himmlischen Wirklichkeit teil, die sie repräsentieren.

Dies ist kein Kurs über Sakramententheologie, aber dieser Exkurs kann uns dabei helfen, den Unterschied zwischen den Schatten und den Abbildern zu verstehen und damit auch den zwischen dem Zeitalter der Schatten und dem Zeitalter der Kirche. Der Hauptunterschied liegt darin, dass die biblischen Schatten wie ein Versprechen Gottes sind, was er für uns in der Zukunft tun will. Die Abbilder oder Sakramente dagegen verweisen auf eine bereits existierende Wirklichkeit. In der Tat enthalten sie diese Wirklichkeit auf eine geheimnisvolle Weise, die wir nicht erklären, sondern nur glauben können.

Wir können diesen Umstand auch so veranschaulichen, dass sich Gott der Schatten bediente, um uns mitzuteilen, was er in Zukunft für uns tun würde. Allerdings war die Realität seiner zukünftigen Handlungen für diejenigen, in deren Zeit er sie ankündigte, noch nicht zugänglich. Für uns dagegen, die wir im Zeitalter der Abbilder leben, sind die Realitäten, die diese Abbilder repräsentieren, zugänglich, so dass wir bereits in diesem Leben an ihrer Wirklichkeit teilhaben können. Dies ist einer der Gründe dafür, warum der Neue Bund größer ist als der Alte Bund.

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Kehren wir zu Jesus zurück: Er ist auf zweierlei Weise in den biblischen Schatten und Versprechen des Alten Testaments anwesend: einerseits durch die Verheißungen, die von ihm sprechen, und andrerseits in den sogenannten ,Typoi', die auf ihn verweisen. Darüber werden wir in der nächsten Lerneinheit mehr erfahren.

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